„Okay, nächstes Szenario: Du bist Pilot in der Soyuz, das Autopilot-Andocken funktioniert nicht, du musst es manuell machen. Gleichzeitig realisierst du, dass die ISS ein Problem hat: sie ist außer Kontrolle und rotiert um eine Achse. Viel Glück!“

Ich gebe im Computer das Szenario ein und warte, bis mein Proband die Preflight-Checks erledigt hat und ein Target ausgesucht hat. Dann schließe ich den Vorhang und mein Kollege ist jetzt ungestört – mit seinen Monitoren kann er sich voll und ganz darauf konzentrieren, an der ISS anzudocken.
Dann lehne ich mich zurück und beobachte den Flugverlauf.
Concordia ist der Ort auf der Erde, der am meisten Ähnlichkeiten hat mit einer Station auf einem anderen Planeten, oder einem Langzeitweltraumflug. Ähnlich wie zukünftige Astronauten sind wir komplett isoliert von der Außenwelt (für neun Monate zumindest), wir haben ungewöhnliche Lichtverhältnisse (dreieinhalb Monate Nacht, gefolgt von langem Zwielicht und dann dreieinhalb Monaten Sonnenlicht), wir müssen uns vorsichtig mit spezieller Kleidung anziehen, bevor wir nach draußen können, wo es nicht selten -80°C hat ( und wir immer per Radio in Kontakt sein müssen); wir sind auf 3233m Höhe mit sehr niedrigen Luftdruck und niedriger Luftfeuchtigkeit, wir sind eine Crew von 13 Leuten. Liebevoll nennen wir unsere Umgebung „Weißer Mars“. Dementsprechend ist die Umgebung optimal für Forschungen im Human Spaceflight Sektor. Ich führe sie durch, und meine Crewkollegen sind die Probanden.

Für eines meiner Experimente fliegen meine Crewmitglieder monatlich einen Soyuzkapsel-Simulator. Die Soyuz ist das russische Raumschiff, das derzeit Astronauten zur International Space Station (ISS) bringt. Fällt am Weg zur ISS das Radar-Navigationssystem aus, müssen die Piloten dort manuell andocken. Fällt auch noch der Target-Monitor aus, muss rein visuell angedockt werden (mithilfe eines Periskops). Wäre die ISS außer Kontrolle und würde sie sich willkürlich durch die Gegend bewegen, müsste dies zusätzlich noch gemeistert werden. Wir haben also viele Szenarien zur Verfügung, um meine Probanden zu testen.
Der Sinn des Ganzen ist, herauszufinden, wie sich motorische Fertigkeiten im Laufe der Isolation verändern. Verschlechtern sie sich, bleiben sie gleich? Zusätzlich zum Simulator absolvieren meine Probanden noch einen motorischen Test und kognitive Tests, ebenso wie diverse Fragebögen, die ebenfalls Daten liefern.

Mit dem Soyuz-Simulator suchen wir Antworten auf Fragen: Astronauten auf einem Langzeitraumflug, z.B. zum Mars, müssen eventuell über Monate hinweg das Raumschiff nicht selbst steuern. Angekommen an dem fremden Planeten, wären sie dann noch in der Lage, das Raumschiff zu landen (und am Ende sicher wieder zur Erde zu bringen)? Sind sie, nach Monaten der Isolation, dazu noch in der Lage? Wie oft müssen sie trainieren, um gute Leistungen zu erzielen?
Zusätzlich zur Isolation haben wir, wie üblich, noch den Sauerstoffmangel und die lange Nacht als Faktoren, die einberechnet werden. Vergleichsstudien finden an der Küste sowie in Europa statt.
Der Simulator hat, wie auch die echte Soyuz, drei Monitore, einer davon die visuelle Ansicht durch das Periskop. Mit zwei Joysticks, einem für Rotations- und einem für Translationsbewegungen, kann der Proband das Raumschiff steuern. Trainiert wird das Fliegen stundenlang den Sommer über; jetzt im Winter gebe ich keine Tipps mehr – meine Crewmates sind auf sich allein gestellt.

Die andere Hälfte des Monats verbringe ich mit meinen drei übrigen Experimenten:
Eines davon beschäftigt sich hauptsächlich mit der Anpassung an die Höhe. Dafür nehme ich Blutproben, 24h Urinsammlungen, und diverse Parameter wie Blutdruck, Herzfrequenz, Temperatur der Füße und Hände, und Sauerstoffsättigung. Zusätzlich, wie üblich, gibts diverse Fragebögen.

Zwei weitere Experimente haben den Fokus am Immunsystem. Nachdem vor unsrer Türe keine pathogenen Viren, Bakterien, Pilze etc. überleben, und wir für 9 Monate immer die gleichen dreizehn Personen sind (und dementsprechend bereits alles, was austauschbar ist, dreimal im Kreis ging), haben unsere Immunsysteme keine neuen Inputs, sie haben nicht viel zu tun. Dies ist ebenfalls eine ähnliche Situation, wie sie während eines Langzeitweltraumfluges herrschen würde. Es ist dementsprechend besonders spannend, zu beobachten, was unsere Zellen dazu so sagen. Dafür nehme ich ebenfalls monatliche Blutproben, wieder Urinsammlungen, dazu noch Speichel, Haare, und, besonders beliebt, Stuhlproben. Und natürlich wieder viele Fragebögen.
Das Immunsystem ist ein bisschen wie ein Muskel: Es wird stärker, je mehr wir es einsetzen müssen. So ist es kein Wunder, dass von früheren Überwinterungen bekannt ist, dass bei Eintreffen der ersten neuen Leute am Beginn des Sommers erstmal die Winterovers leicht krank werden.

Einige dieser Blutproben analysiere ich direkt im Labor. Zu diesem Zweck steht hier zum Beispiel ein Flowzytometer, welches Zellen nach allen möglichen Werten sortiert und zählt. Manchmal schnell, meistens eher langsam, und immer ziemlich laut. Aber es fasziniert alle, wenn sie ihre Zellen so aufgedröselt am Bildschirm beobachten können.
Wir haben auch die Möglichkeit, komplette Blutbilder zu machen, und diverse andere Blutwerte können im Krankenhaus bestimmt werden. Unseren Cholesterinwerten sehe ich regelmäßig beim Steigen zu. Die Anpassung an die Höhe ist auch deutlich erkennbar: mein Hämoglobin liegt derzeit bei 15.4g/dl, immerhin ein Anstieg von fast 30%. Wir freuen uns auf flüchtige sportliche Erfolge bei der Rückkehr zu normalen Sauerstoffverhältnissen.

Es wird mir also nicht fad. Die Abenteuer meiner Kollegen im Simulator sind immer wieder sehenswert, auch wenn sich inzwischen immer weniger im All verlieren. Unseren Blutzellen bei der Gewöhnung an die seltsamen Bedingungen hier zuzuschauen, ist nicht weniger spannend.
Und wenn die Versuchung zu groß wird, hüpfe ich selbst in meinen Simulator, lasse die ISS rotieren und den Target-Monitor ausfallen und rette mein Raumschiff mit semi-eleganten Andockmanövern. Zumindest meine motorischen Fertigkeiten leiden hier nicht.
Hallo Carmen,
das war ein schöner, lesenswerter und spannender Bericht über einen kleinen Alltagseinblick. Davon würde ich gerne mehr lesen.
Gruss aus Leipzig
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